1973 erschien der US-amerikanische Film [https://de.wikipedia.org/wiki/%E2%80%A6Jahr2022%E2%80%A6die%C3%BCberlebenwollen Soylent Green] als dystopische Vision einer fernen Zukunft: Dem Jahr 2022. Der Streifen kam in eine bewegte Welt: Der Club of Rome hatte ein Jahr zuvor seine Studie [https://de.wikipedia.org/wiki/DieGrenzendes_Wachstums "Die Grenzen des Wachstums"] vorgelegt, das Selbstverständnis der USA scheiterte ausgedehnt in Vietnam, und die [https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%96lpreiskrise Ölpreiskrise] zeichnete sich bereits ab.
Dementsprechend düster war das Bild, das der Film malte: Überbevölkerung, Umweltzerstörung und Raubbau an den Ressourcen fütterten eine tiefe Unmenschlichkeit - und nährten sich gleichzeitig aus ihr.
Nun sind wir also angekommen, hier in 2022. Ein Jahr tatsächlich wie aus einem Sci-Fi-Film - jedenfalls für alle, die ihre Kindheit großteils in den 80ern verlebt haben.
Ich würde zu gerne schreiben, dass es zu Beginn eines solchen Science-Fiction-Jahrs allen Anlass gibt, der Zukunft guten Mutes entgegenzublicken. Es fiele mir allerdings schwer. Überschwänglichen Optimismus verhindern etwa die anhaltenden Kränkungen und Enttäuschungen aus dem geradezu fahrlässigen Umgang mit der Pandemie.
Um die unausweichlich scheinende Klimakatastrophe bewerkstelligen zu können, braucht die Welt jedenfalls deutlich mehr an Anstrengung als das, was wir derzeit zu sehen bekommen.
Apropos, in diesem Jahr jährt sich der [https://de.wikipedia.org/wiki/Weltgipfelf%C3%BCrnachhaltigeEntwicklung2002 "Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung"] zum 20. Mal. Ende August 2002 fand er in Johannesburg statt.
Der bekanntermaßen deutlich linksgrünversiffte französische Präsident [https://de.wikipedia.org/wiki/Jacques_Chirac Jacques Chirac] hielt dort eine Rede, die ich weiter unten übersetzt wiedergeben möchte. Vielleicht ein passender Anfang für dieses Jahr 2022.
PS: Euch Allen die besten Wünsche. We will meet again.
Herr Präsident, meine Damen und Herren,
Unser Haus brennt und wir schauen weg. Die verstümmelte, übermäßig ausgebeutete Natur kann sich nicht mehr erholen, und wir wollen es nicht wahrhaben. Die Menschheit leidet. Sie leidet an Fehlentwicklungen, im Norden wie im Süden, und es ist uns gleichgültig. Die Erde und die Menschheit sind in Gefahr und wir alle sind dafür verantwortlich.
Es ist an der Zeit, so glaube ich, die Augen zu öffnen. Auf allen Kontinenten leuchten die Warnsignale auf. Europa wird von Naturkatastrophen und Gesundheitskrisen heimgesucht. Die US-Wirtschaft, die oftmals bulimisch mit natürlichen Ressourcen umgeht, scheint von einer Vertrauenskrise in ihre Regulierungsmethoden befallen zu sein. Lateinamerika wird erneut von einer Finanz- und damit Sozialkrise erschüttert. In Asien breitet sich die zunehmende Umweltverschmutzung, die sich in der Atmospheric Brown Cloud zeigt, aus und droht einen ganzen Kontinent zu vergiften. Afrika wird von Konflikten, AIDS, Wüstenbildung und Hungersnöten überwältigt. Einige Inselstaaten sind durch die globale Erwärmung vom Untergang bedroht.
Wir können nicht sagen, dass wir nichts davon wussten! Wir müssen aufpassen, dass das 21. Jahrhundert für künftige Generationen nicht zu einem Jahrhundert des Menschenverbrechens gegen das Leben wird.
Wir tragen eine kollektive Verantwortung. Die Hauptverantwortung liegt bei den Industrieländern. Hauptverantwortung durch die Geschichte, Hauptverantwortung durch die Macht, Hauptverantwortung durch das Ausmaß ihres Konsums. Wenn sich die gesamte Menschheit so verhalten würde wie die Länder des globalen Nordens, bräuchten wir zwei zusätzliche Planeten, um unseren Bedarf zu decken.
Aber Verantwortung auch für die Entwicklungsländer. Langfristige Zwänge im Namen der Dringlichkeit zu leugnen, ergibt keinen Sinn. Diese Länder müssen zugeben, dass es für sie keine andere Lösung gibt, als eine weniger umweltschädliche Art des Wachstums zu erfinden.
Zehn Jahre nach Rio haben wir keinen Grund, stolz zu sein. Die Umsetzung der Agenda 21 ist mühsam. Das Bewusstsein unseres Versagens muss uns dazu bringen, hier in Johannesburg die Globale Allianz für nachhaltige Entwicklung zu beschließen.
Ein Bündnis, mit dem die Industrieländer die ökologische Revolution, die Revolution ihrer Produktions- und Konsummuster einleiten werden. Ein Bündnis, in dem sie die notwendigen Solidaritätsanstrengungen für die armen Länder unternehmen werden. Ein Bündnis, zu dem Frankreich und die Europäische Union bereit sind.
Ein Bündnis, in dem die Entwicklungsländer den Weg der verantwortungsvollen Staatsführung und der sauberen Entwicklung beschreiten werden.
Vor uns liegen, so glaube ich, fünf vorrangige Baustellen.
Da ist zunächst der Klimawandel. Er ist durch menschliche Aktivitäten entstanden. Er bedroht uns mit einer globalen Tragödie. Es ist keine Zeit mehr, dass jeder für sich selbst agiert. Aus Johannesburg muss ein feierlicher Appell an alle Länder der Welt, vor allem an die großen Industrieländer, ergehen, das Kyoto-Protokoll zu ratifizieren und umzusetzen. Noch ist die globale Erwärmung umkehrbar. Schwerwiegend wäre die Verantwortung derjenigen, die sich weigern, sie zu bekämpfen.
Die zweite Baustelle ist die Beseitigung der Armut. In einer globalisierten Welt ist das Fortbestehen von Massenarmut ein Skandal und eine Ungeheuerlichkeit. Setzen wir die Beschlüsse von Doha und Monterrey um. Erhöhen wir die Entwicklungshilfe, um in spätestens zehn Jahren 0,7 % des BIP zu erreichen. Erschließen wir neue Finanzierungsquellen. Zum Beispiel durch eine notwendige Solidaritätsabgabe auf den enormen Reichtum, der durch die Globalisierung entstanden ist.
Dritte Baustelle: die Vielfalt. Die biologische und die kulturelle Vielfalt, beides gemeinsames Erbe der Menschheit, sind bedroht. Die Antwort ist die Bekräftigung des Rechts auf Vielfalt und die Annahme von rechtlichen Verpflichtungen zur Ethik.
Vierte Baustelle: die Produktions- und Konsumgewohnheiten. Gemeinsam mit den Unternehmen müssen Systeme entwickelt werden, die sparsam mit natürlichen Ressourcen, Abfall und Verschmutzung umgehen. Die Erfindung der nachhaltigen Entwicklung ist ein grundlegender Fortschritt, für den wir die Errungenschaften der Wissenschaft und der Technologie unter Beachtung des Vorsichtsprinzips einsetzen müssen. Frankreich wird seinen G8-Partnern vorschlagen, auf dem Gipfeltreffen in Evian im Juni eine Initiative zur Förderung der wissenschaftlichen und technologischen Forschung im Dienste der nachhaltigen Entwicklung zu verabschieden.
Fünfte Baustelle: Global Governance, um die Globalisierung menschlicher zu gestalten und um sie zu bewältigen. Es ist an der Zeit, anzuerkennen, dass es globale öffentliche Güter gibt und dass wir sie gemeinsam verwalten müssen. Es ist an der Zeit, ein übergeordnetes Interesse der Menschheit zu bekräftigen und durchzusetzen, das eindeutig über die Interessen der einzelnen Länder hinausgeht, aus denen sie sich zusammensetzt.
Um die Stimmigkeit des internationalen Handelns zu gewährleisten, brauchen wir, wie ich in Monterrey sagte, einen Rat für wirtschaftliche und soziale Sicherheit.
Um die Umwelt besser zu verwalten, um die Einhaltung der Grundsätze von Rio durchzusetzen, brauchen wir eine Weltumweltorganisation.
Um die Umsetzung der Agenda 21 und des Aktionsplans von Johannesburg zu überprüfen, schlägt Frankreich vor, dass die Kommission für nachhaltige Entwicklung mit einer Peer-Review-Funktion ausgestattet wird, wie sie beispielsweise bei der OECD existiert. Und Frankreich ist bereit, sich als erstes einer solchen Bewertung zu unterziehen.
Herr Präsident,
Angesichts der Geschichte des Lebens auf der Erde hat die Geschichte der Menschheit gerade erst begonnen. Und doch ist sie durch die Schuld des Menschen bereits eine Bedrohung für die Natur und damit auch selbst bedroht. Kann der Mensch, die Krone der Evolution, zum Feind des Lebens werden? Und das ist das Risiko, das wir heute aus Egoismus oder Verblendung eingehen.
Vor mehreren Millionen Jahren tauchte er in Afrika auf. Er war zerbrechlich und unbewaffnet, konnte sich aber dank seiner Intelligenz und seiner Fähigkeiten über den ganzen Planeten ausbreiten und ihm sein Gesetz aufzwingen. Es ist an der Zeit, dass die Menschheit in der Vielfalt ihrer Kulturen und Zivilisationen, von denen jede ein Recht darauf hat, respektiert zu werden, eine neue Verbindung mit der Natur eingeht, eine Verbindung des Respekts und der Harmonie, und demnach lernt, die Macht und den Appetit des Menschen zu zügeln.
Und heute, hier in Johannesburg, trifft die Menschheit auf ihr Schicksal. Und welcher Ort könnte schöner sein als Südafrika, lieber Thabo MBEKI, lieber Nelson MANDELA, ein Land, das durch seinen siegreichen Kampf gegen die Apartheid zu einem Symbol geworden ist, um diese neue Etappe des menschlichen Abenteuers einzuleiten?
Ich danke Ihnen.
Links:
[https://www.elysee.fr/jacques-chirac/2002/09/02/declaration-de-m-jacques-chirac-president-de-la-republique-sur-la-situation-critique-de-lenvironnement-planetaire-et-les-propositions-de-la-france-pour-un-developpement-durable-johannesburg-le-2-septembre-2002 Der französische Text.]
[https://www.youtube.com/watch?v=W8vLbhbID1I Nicht ganz vollständige Aufzeichnung der Rede auf YouTube] und der [https://fr.wikipedia.org/wiki/Notremaisonbr%C3%BBleetnousregardonsailleurs Artikel in der französischsprachigen Wikipedia].